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Leo Graf: Alles ist möglich! Mit 90 auf dem Großglockner

Blog von: Csaba Szépfalusi

Langversion zum Beitrag in voi dabei 1/2018, S. 14-15

Csaba Szépfalusi

Alles ist möglich!
Mit 90 auf dem Großglockner


Leo Graf, Edelweiss-Mitglied der ersten Stunde, feierte im Sommer 2017 seinen 90er auf dem Großglockner. Wir konnten mit ihm im Februar 2018 ein Interview führen.

Foto: Walter Graf
Foto: Walter Graf

Wie war die Glocknerbesteigung?
Mein Sohn Walter ist Bergführer und ich hab mir diese Besteigung unter seiner Führung von ihm gewünscht. Auch meine technische Ausrüstung (Gurt, Steigeisen, Pickel, Karabiner, Seil sowieso) durfte er tragen! Wir sind nach einer Nacht im Glocknerhaus zur Salmhütte und andertags über die Hohenwartscharte (übrigens pipifein hergerichtet!) zur Adlersruhe hinauf. Der Gipfeltag war dann vom Wetter leider nicht begünstigt (null Sicht, ein wenig Neuschnee). Weil wir auf der Adlersuhe so viele Bekannte getroffen haben (ehem. und jetziger Hüttenwirt, div. Bergführer), blieben wir dort noch eine Nacht. Der folgende Abstieg an einem Tag zurück zum Glocknerhaus war dann für mich schon sehr grenzwertig!
Aus früheren Gesprächen weiß ich, dass du dich zum Schönwetterbergsteiger entwickelt hast!
Das stimmt, aber am nächsten Tag wäre das Wetter noch schlechter gewesen. Diesmal stand der Wunsch im Vordergrund. 

Warum gerade auf den Großglockner?
Er ist nun mal der höchste Berg Österreichs, noch höher gelegene Ziele sind mir schon zu aufwändig. Nach einer langen transkontinentalen Bergsteigerkarriere geht‘s mir nicht ums Prestige. Es war eine Art Abschied von höheren, längeren Touren. Eine Klettertour, z.B. im Grad 5c, den ich nur noch nachsteigen kann, wäre für mich nicht gleichwertig gewesen. Der Glockner ist ja technisch wenig anspruchsvoll, aber für mich insgesamt fordernder gewesen. Und ich weiß nicht, ob ich das heuer noch packen würde!

Der Glockner „wenig anspruchsvoll“, da spricht aber ein Bergsteiger aus einem anderen Holz!
Na ja, für einen alten Bergsteiger steht eher die Anstrengung im Vordergrund, jeder hohe Schritt ist schlicht und einfach mühsam.

Schauen wir zurück zu deinen Anfängen!
Ende Jänner 46 bin ich als 18jähriger aus der Kriegsgefangenschaft (ich war „Kindersoldat“) zurück nach Wien. Leider, denn in Ostfriesland gab‘s damals viel mehr zu essen! Mein Interesse an den Bergen hab ich von meiner Mutter und so ging ich eines Tages in die Walfischgasse zum Vorläufer des Alpenvereins Edelweiss. Ich wurde Mitglied und hab mir Karte und Führer der Schobergruppe ausgeborgt und bin hingefahren zum Wandern. Ich hatte ja weder Ahnung noch Ausrüstung. Aber ich wollte von dort die Hohen Tauern und den Großglockner sehen.
Es begann mit einem Fiasko, denn die Hochschoberhütte war zerstört und ausgeraubt, es gab also weder Quartier noch Verpflegung. Das konnte ich nicht wissen, denn Planung fand damals nur auf der Karte statt, um anderes hat man sich nicht gekümmert. Hütten mussten nicht reserviert werden, sie waren eh nicht überfüllt. Ich bin weiter zur Lienzer Hütte, ein älterer Bergsteiger hat mich auf den Hochschober mitgenommen, dann am Seil (ich hab mich am Felsgrat ein wenig gefürchtet) auf die Glödis. Und als ich Karte und Buch zurückgebracht hab, gab man mir den Tipp, zu einem wöchentlichen Treffen zu gehen, wo ich dann einige Gleichaltrige kennengelernt habe, mit denen ich in die Berge loszog. Wir standen alle vor derselben Situation, hatten wenig Ahnung. Es gab die eine oder andere Lehrschrift und einen Kletterführer über die Rax. Wir kletterten in den Kletterschulen des Wienerwaldes. Der Aktionsradius beschränkte sich anfangs auf die mit der Straßenbahn erreichbaren Ausgangspunkte. In der Edelweiss gab‘s nicht wie in den anderen Vereinen eine Bergsteigerbasis, die Tourentipps geben konnten. Es war für uns eine harte Schule mit Erfolgen und einigen Niederlagen. Wir haben aus Fehlern gelernt, leider haben‘s einige nicht überlebt.

Warst du ein Klettertalent?
Kein Supertalent, aber das Klettern ist zur Leidenschaft geworden. Mehr war anfangs gar nicht drin, selbst die Rax war außer Reichweite. Aber das Bergsteigen juckte.
Was verstehst du unter Bergsteigen?
Es ist der Wunsch, höhere Berge zu besteigen bzw. nicht die leichteste Route zu wählen, sondern eine anspruchsvollere. Und die Qualität, ein Universalalpinist zu sein.

Es sollte also höher hinausgehen?
Ja, 1950 bekamen wir zum ersten Mal ein 10-Tage-Visum für die Schweiz, mit dem Ziel, den Piz Bernina, unseren ersten 4000er, zu besteigen. Österreich war besetzt, insbesondere die Demarkationslinie aus der russischen Besatzungszone war ein Kriterium. Ossi Krammer, ein damaliger Gefährte, war z.B. staatenlos, hatte also keine Papiere. Bei Bahnreisen ins Gesäuse haben wir ihn im Waggon unter der Bank versteckt. Er hat dabei sein Leben riskiert, wir eine Gefängnisstrafe. In die Schweiz konnte Ossi nicht mit, erst ab 1955 hat sich seine Situation gebessert.
Wie hast du dich weiterentwickelt als Bergsteiger?
Nachdem der Montblanc bestiegen war wurden die noch höheren Berge auf anderen Kontinenten (Kaukasus, Himalaya, Anden) zu Wunschträumen, an eine Realisierung war noch nicht zu denken.

Wie hoch sollte es hinausgehen?
Bis ins Unendliche (lacht), alles ist möglich! Das Studium der Literatur war oft ernüchternd und abschreckend (Entbehrungen, Gefahren), dann haben wir aber gemerkt, dass die anderen auch nur mit Wasser kochen!
Die erste sehr schöne Reise unternahmen wir 1953 mit Franz Hiess in die Türkei und bestiegen den Erciyes Dag. Der Ararat war nicht möglich, er lag im Kurdengebiet.

Wo war‘s am schönsten?
Überall! Das ist schwer zu sagen. Die Route spielt eine Rolle, das Wetter und der Gefährte. Wenn das alle passt, dann war‘s ein sehr schöne Tour, und davon gab’s einige!

Hast du noch realistische Ziele?
Es müssen keine unbekannten Routen mehr sein, bekannte im Höllental und auf der Hohen Wand tun‘s auch. Im Vorstieg gehe ich eine Seillänge nur noch, wenn‘s mich besonders juckt, sondern lass ich die anderen vor.

Du warst auch immer stressfrei, oder?
Ja, ich hab Druck immer abgelehnt. Und gemagerlt hat mich auch das grundsätzliche, also unreflektierte, zeitige Aufstehen am Berg, das war nie mein Ding. Am Illimani sind wir später weg und halt abends ins Dunkle gekommen, dafür haben wir beim Abstieg unsere Aufstiegspur gefunden. Wer zeitig startet, hinterlässt auf dem gefrorenen Firn keine Spuren! Nicht immer sind „Regeln“ sinnvoll!

Was hat sich verändert in den vielen Jahren?
Die Klimaerwärmung war am Glockner augenscheinlich, ich blicke ja auf 70 Jahre Bergerfahrung zurück. Eines ist mir daher klar: in 50 Jahren gibt‘s in den Alpen keine Gletscher mehr. Die Berge werden aber trotzdem, eindrucksvoll bleiben!
Die Ausrüstung ist natürlich besser und leichter geworden. Seile reißen de facto nicht mehr, das war früher gefährlicher. Die damaligen 40er-Seile waren aber nicht schwerer als heute die 80er beim Sportklettern. Ist mir aber jetzt wurscht, weil meine lieben Gefährten und Gefährtinnen sind nett und lieb zu mir und tragen das Seil.
Wenn heute jemand bei Sonnenuntergang nicht zurück ist, wird sofort die Bergrettung alarmiert. Wir haben früher oft biwakiert. In einer Notlage konnten wir nur um Hilfe schreien. Handy gab‘s ja keins. Wenn wir nicht schrien, hatten wir eine ruhige Nacht, gesucht hat uns niemand.

Bist du ein Sportkletterer geworden?
Zwangsläufig, aber mit Begeisterung. Keiner meines Jahrgangs konnte skifahren, hat‘s später auch nie gelernt. Skibergsteigen war eine jahreszeitlich bedingte Notwendigkeit, es ging aber um den hohen Gipfel, nicht um das Abfahrtsvergnügen. Bei geringer Schneelage gingen wir zu Fuß, Schneeschuhe waren kein Thema, ich mag sie bis heute nicht!

Was haltest du vom Klettersteiggehen?
Ich kenne natürlich einige Klettersteige (Seewand, Gebirgsvereinssteig), bin aber kein Klettersteiggeher! In den Dolomiten haben wir uns nach der Kletterei abgeseilt oder sind eine Ferrata runter. Gesichert hab ich mich mit der Bandschlinge, wenn notwendig. Im Sturzfall wäre sie zwar gerissen, aber am Klettersteig stürze ich doch nicht!

Stichwort Eigenverantwortung!
Ein sehr gutes Thema! Heute wird bei jedem Bergunfall nach einem Schuldigen gesucht. Es muss immer ein Mensch eingetaucht werden. Ich scheue mich deshalb zunehmend, wegen der Haftungsgefahr Auskünfte zu erteilen, habe die Befürchtung, beschuldigt zu werden.
Zum Glück fördert der Alpenverein die Eigenverantwortung. Eigenverantwortung ist Freiheit. Wenn‘s die nicht gäbe, dann würde mir beim Bergsteigen etwas fehlen!

Warum bist du Bergsteiger geworden und nicht z.B. Ruderer?
Ich bin da sehr realistisch. Bergsteigen ist für mich zur Sucht geworden. Das muss man irgendwann zur Kenntnis nehmen! Sucht nicht im Sinne von immer mehr, aber wenn etwas davon weggenommen wird, dann reagiert man mit Entzug. Gott sei Dank ist mir das noch nie passiert. Bergsteigen ist ja sehr flexibel: Extremklettern, hohe Berge, eine Wanderung aufs Eiserne Tor! Wenn aber selbst das nicht mehr geht, dann würde ich wahrscheinlich schon grantig werden, Entzugserscheinung haben und meiner Umwelt ein Ärgernis sein!

Das Eiserne Tor gibt dir auch was?
Ja sicher! Auch das Hallenklettern ist für mich wieder schön geworden. Beim Wandern gehe ich ja nicht an meine Grenzen, aber beim Hallenklettern kann ich mich fallweise motivieren, an die Grenze zu gehen, rein technisch! Ich war aber am Berg immer bemüht, Reserven zu haben. Erst wenn die selbstgewählte Grenze das absolute Limit ist, dann wird’s blöd!

Du bist auch viel und gerne mit Frauen unterwegs gewesen!
Ja, auch mit solchen, die besser waren als ich. Ich bin halt ein netter Mensch, hab mich nicht kapriziert, hab das Bergsteigen auch nie todernst genommen. Einmal hab ich eine in der Halle kennengelernt und wollte ihr eine alpine Kletterei auf der Hohen Wand zeigen. Das ging ziemlich in die Hose. In der Halle kletterte sie 6a, draußen hat sie einen 2er-Quergang verweigert. Das kannte sie aus der Halle nicht. Die Felskletterei ist halt doch was anderes. Da war ich doch ein wenig angefressen.

Sportklettertraining?
Ja, die Bewegungstechnik bringt‘s! Kraft hab ich ja keine mehr. Ich bin noch mit über 80 mit Arthur Kubista auf Trainingscamps gefahren, bis nach Sardinien. Verbessern war natürlich nicht mehr drin, aber ich hab immer das Positive gesucht, also nicht die Erfahrung, dass ein 7er nicht mehr geht, sondern das ich mich bei einem 5er nicht plage. 
Was ich aber beim Sportkletterer nie geschafft hab, ist das Klettern an und über der Sturzgrenze. Früher galt das Credo: Der Vorsteiger darf nicht stürzen, daher hab ich Sturzübungen immer verweigert, freiwillig hupf ich nicht runter!

Dein Geheimrezept mit 90?
Gute Gene sicher, aber auch selber hab ich etwas dazu beigetragen. Und ich hab nicht das gemacht, wovon alle sagen, das ist gesund. Die publizierten Vorschriften und Tipps gehen mir am Geist, Nahrungsergänzungsmittel, neue asiatische Pflanze...
Und ja keine Askese! Hab kein Verständnis für alles was anti ist. Man soll nicht alles vermeiden, wo man Spaß haben könnte: Stichwort vegetarisch, vegan, antialkoholisch, nichtrauchen.
Jeder soll sein Leben leben, sich auf sich selber besinnen und nicht alles kritiklos nachahmen, nachbeten.

Ist der Berg eine gute Schule?
Eine sehr gute, wenn man die Sache unvoreingenommen und unbeeinflusst angeht. Auch Alleingänge sind sehr sinnvoll. Man ist näher bei sich und entwickelt eine innere Sicherheit. Ich bin kein typischer Alleingeher, fahre aber so alle zwei Monate gerne mal raus wurscht wohin. Ich falle niemanden zur Last und muss auch auf niemanden warten. Ich muss nur schauen, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit zurück bin, da die Augen nachlassen.


Foto: Angela Paulus

Hast du am Berg Fehler gemacht?
Keine gravierenden. Ein Bergunfall ist ja meist ein Ergebnis kumulierter kleiner Fehler. Unfälle hab ich erlebt, das hat mich aber nicht davon abgehalten, weiterzumachen. Wie wir jung waren, haben wir geglaubt unverwundbar und unsterblich zu sein, wir wurden aber bald eines Besseren belehrt…
Am Schlimmsten war das Gefühl der Hilflosigkeit, es hatte uns ja an Erfahrung und Wissen, z.B. über Erste Hilfe, gefehlt.
Bergsteige war ja früher immer mehr Abenteuer als heute, wo es mehr Richtung Erlebnis geht. Da wir wenig lokale Kenntnis und Information hatten, haben wir aus der Karte und lokaler Beobachtung gearbeitet und geplant. Ich war da immer sehr gut und auch erfolgreich, da ich von Jugend an ein Kartenfan war. Es kam Freude auf, wenn die Einschätzung richtig war, Misserfolge waren sehr selten!

Warst du am Berg ein Suchender?
Nein, ich bin nur bergsteigen gegangen, weil ist es wollte, hab‘s nicht tiefer hinterfragt, es hat ganz einfach gepasst. Der moderne psychologische Zugang ist mir fremd. Ich will das nicht so übertrieben vergeistigt wissen, Sucht ist OK, einen Kult mache ich keine darum.

Was ist dein nächstes Bergziel?
Am kommenden Samstag fahr ich zum Unterberg, aber nur, wenn ich gut drauf bin, wenn nicht dann nicht.
Skifahren ist ja für mich etwas haarig, aber der Unterberg ist nicht weit, der Aufstieg allein ist schön und die Piste bei allen Schneebedingungen gut fahrbar und wenn ich stürzen sollte, dann kommt sicher jemand vorbei, der mir wieder auf die Beine hilft, das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Lieber Leo, dann danke für das Gespräch und alles Gute für die nächste Skitour!


Foto: Walter Graf